Interview
Die Stadt Zürich will ab Januar das Prinzip «Housing First» erproben. Stefan Bäni, Leiter der städtischen Wohnangebote, hat dazu eine überraschende Haltung.
Giorgio Scherrer (Text), Annick Ramp (Bilder)
3 min
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Szenen aus einem betreuten Wohnhaus der Heilsarmee: Solche Institutionen werde es auch mit «Housing First» weiter brauchen, sagt der Experte.
Stefan Bäni, Sie betreuen Obdachlose, die sich zurück in den regulären Alltag kämpfen. Wie geht es diesen Menschen?
Ihr psychischer Gesundheitszustand ist schlecht. Fast alle leiden an mindestens einer psychischen Krankheit, zwei Drittel gar an mehreren. Etwa 80 Prozent haben eine Suchterkrankung. Bei uns wohnen vor allem Leute, die sonst nirgends mehr unterkommen – und entsprechend auch einsam sind.
Sie arbeiten seit zwölf Jahren in der Wohnintegration von Obdachlosen. Welches Problem hat sich in dieser Zeit am meisten zugespitzt?
Wir beobachten mehr psychische Probleme. Auch die Fähigkeit, den Alltag zu bestreiten, hat abgenommen. Ein weiteres Problem ist der Zürcher Wohnungsmarkt: Es wird auch für unsere Klientinnen und Klienten immer schwerer, eine passende Wohnung zu finden.
Obdachlose sind häufig psychisch krank
Diagnosen von Bewohnern in Wohnangeboten der Zürcher Obdachlosenhilfe, in Prozent
Es wurden 333 Personen in der Stadt Zürich befragt.
Quelle: WOPP-Studie 2021
NZZ / sgi.
Wie realistisch ist es, dass man als Obdachloser wieder eine eigene Wohnung findet?
Bei vielen ist es nicht realistisch. Vor allem bei älteren, suchtkranken Menschen, die schon lange bei uns sind. Die sind oft pflegebedürftig und dazu noch psychisch krank. Es gibt aber auch immer wieder Überraschungen – Leute, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit eine eigene Wohnung finden.
Was ist nötig, damit jemand es aus der Obdachlosigkeit schafft?
Zuerst braucht es eine Stabilisierung der Situation: nicht mehr draussen schlafen, wegkommen von Stress und Angst, etwas Ruhe und Geborgenheit finden. Das kann bei uns sein oder bei Freunden, der Familie – wobei diese Beziehungen oft schon lange in die Brüche gegangen sind. Wichtig ist auch, die eigenen Probleme anerkennen und Unterstützung annehmen zu können. Das bereitet vielen Mühe.
Was tun Sie mit Leuten, bei denen ein Austritt nicht mehr realistisch ist?
Dann geht es nicht mehr primär um Integration, sondern um Schadensminderung. Viele unserer Angebote sind in den 1990er Jahren entstanden, aus der Bekämpfung der offenen Drogenszene am Platzspitz heraus. Das prägt uns bis heute. Der Konsum von illegalen Substanzen wird bei uns zum Beispiel toleriert. Wir sprechen das Thema an und vermitteln Therapien, aber unsere Klientinnen und Klienten entscheiden selbst über ihren Lebensstil.
Viele Obdachlose nehmen Psychopharmaka
Medikamentenkonsum von Bewohnern in Wohnangeboten der Zürcher Obdachlosenhilfe, in Prozent
Es wurden 332 Personen in der Stadt Zürich befragt.
Quelle: WOPP-Studie 2021
NZZ / sgi.
«Housing First» gilt in der Obdachlosenhilfe als Wundermittel. Statt dass Obdachlose sich Stufe für Stufe im Hilfsangebot hocharbeiten, bekommen sie einfach eine Wohnung. Was halten Sie davon?
Dieser Ansatz birgt sehr viel Potenzial, aber er ist kein Wundermittel. Es ist zum Beispiel nicht so, dass es dank ihm plötzlich keine Notschlafstellen mehr brauchen wird. «Housing First» ist vor allem eine Idee: dass man den Leuten möglichst bedingungslos hilft, statt dass sie sich erst beweisen müssen. Wie man diese Idee umsetzt, ist von Ort zu Ort verschieden – und muss es auch sein. Es kann in Zürich nicht gleich funktionieren wie in den USA, wo der Ansatz vor dreissig Jahren entstanden ist – und wo es damals massenhaft leerstehende Wohnungen gab, in denen man Leute einquartieren konnte.
Wie steht es denn um «Housing First» in Zürich?
Wir starten im Januar mit einem Pilotprojekt, das erste Optionen ausloten soll. Es geht darum herauszufinden, in welcher Form «Housing First» in Zürich umgesetzt werden kann. Klassischerweise stellen dabei ja private Vermieterinnen und Vermieter die Wohnungen zur Verfügung – das ist hier aufgrund des Wohnungsmarktes schwierig.
Also eher nichts für Zürich.
Man muss sehen: Vieles von dem, was «Housing First» fordert, machen wir eigentlich schon. Wir tolerieren den Konsum von illegalen Substanzen. Und wir ermöglichen einen sehr raschen Eintritt in unsere Angebote. Nach 14 Tagen hat man in der Regel einen Platz, einfach in einem betreuten Angebot. Ich kenne keinen Ort auf der Welt, wo das schneller geht.
Die Hoffnung ist ja, dass man die Leute besser von der Strasse bringt, wenn man ihnen direkt eine eigene Wohnung gibt – und damit quasi einen Vertrauensvorschuss gewährt.
Bei uns herrscht grosse Akzeptanz im Sinn von: Egal, was dein Lebensstil ist, du bekommst bei uns Unterstützung. Was nicht heisst: Du kannst machen, was du willst. Nicht die Klientin oder der Klient sagt: Ich will unbedingt dieses Angebot. Sondern wir entscheiden, welches passt und realistisch ist. Es gibt bei der Akzeptanz auch Grenzen.
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